Die Filmemacherin Shirley Clarke und die EXPO von 1958
Die in New York City geborene Shirley Clarke war ursprünglich Tänzerin. Sie studiert bei Martha Graham und arbeitet mit Hanya Holm, Doris Humphrey und Anna Sokolow zusammen. Die junge Frau interessiert sich besonders für die Möglichkeiten der Darstellung von Tanz im Film. 1953 gibt sie den Tanz auf und beginnt erste Filme zu drehen, bei denen sie tänzerische, fließende Bewegungsabläufe über Kameraführung und Schnitttechnik zu erzeugen versucht. Ihren Filmstil nennt sie „Visual Jazz“. Ihre Kurzfilme für die Weltausstellung von 1958 in Brüssel sind ein Meilenstein in der Filmgeschichte.
Bei Recherchen in den National Archives in Washington D.C. hat mich die gute Freundin und Researcherin Elisabeth Hartjens vor einigen Jahren auf einige Filmrollen von Shirley Clarke aufmerksam gemacht.
1957 erhält die spätere Oscar-gekrönte Avantgarde-Filmemacherin zusammen mit einigen New Yorker Kollegen den Auftrag, 25 Kurzfilme zu drehen, die auf der Brüsseler EXPO präsentiert werden sollen und die Amerika als „Gesellschaft in Bewegung“ präsentieren sollen. Das Ergebnis ist ein Meilenstein der Kurzfilmgeschichte. Die stummen und nicht-lineare Montagen hat Shirley Clarke in ihrem „Visual Jazz“-Stil geschnitten. Sie versucht, eine dem Medium Film, also dem „Bewegtbild“, angemessene Choreographie, Bewegung und Rhythmus zu erzeugen.
Die Filmemacherin und ihr Kollege Donn Alan Pennebaker, der Regie geführt hat und an der Kamera gearbeitet hat, präsentieren eine Mischung aus bunten, schillernden optischen Effekten und geschickter Auflösung von Bewegungsabläufen in Close Up Schnitten. Eines der für mich gelungensten Beispiele ist „Gas Stop“. Vieles in diesem Film erinnert an die Machart von Fernsehwerbefilmen in den goldenen Zeiten der TV-Werbespots in den 1980er oder 1990er Jahren. „Gas Stop“ zeigt die Betankung und schnelle Wartung eines Autos an einem Highway. Die Automobilität war in den 50er Jahren die wichtigste neue Lebenserfahrung der amerikanischen Mittelschichten. Der Straßenkreuzer ist bis heute Inbegriff der neuen Freiheit zur Überwindung der räumlichen Grenzen mit dem eigenen Automobil. Er ist Statussymbol, Messgrad des sozialen Fortschritts, mobiles Heim.
Der Film kann heute, wo die benzingetriebene Mobilität ihrem Ende entgegensieht als eine Hommage auf eine untergehende Welt betrachtet werden. Ich habe bei dieser Kopie das Filmmaterial digital restauriert und eine Musik unterlegt.
Clarke bringt ihre Erfahrungen der choreographierten tänzerischen Bewegungen in ihre Filme ein. Die amerikanische Gesellschaft der Nachkriegszeit war in vielerlei Hinsicht eine Gesellschaft in Bewegung. Der Wirtschaftsboom bringt Wohlstand, also soziale Bewegung, Tanz, Rock’nRoll und Jazz lassen die Welt grooven. Supermarkt und Shopping Center werden als die neuen Tempel der Konsumgesellschaft inszeniert. Shirley Clarke bringt den Bewegungsdrang in ihre Filme ein. Einen ihrer ersten Filme hat sie in Paris mit Martha Graham gedreht. In „Paris Parks“ nutzt sie bereits den Filmschnitt, um Bewegungsabläufe zu thematisieren. Im Kurzfilm „Dance in the Sun“ von 1953 adaptierte die Choreografie von Daniel Nagrin. In „A Moment in Love“ filmt sie ein tanzendes Paar in den Dünen, wechselt dann in extreme Untersicht und schließlich in Spiegelungen der Gesichter zu abstrakten Formen und Farben.
Die Themen der Filme waren vom Auftraggeber, der Regierungsorganisation des Aussenministeriums USIA (US Information Agency), vorgegeben worden. Die Vorgabe, Amerika in Europa als „Gesellschaft in Bewegung“ zu präsentieren, soll in Themen wie Forschung, mechanisierte Industrieproduktion, Verkehr, Menschen, Nahrungsmittelproduktion, Einkauf in Shopping Centern, Energiegewinnung (mittels Atomkraft), Neubau von Stadtvierteln, Herstellung von Kleidung und Kostümen, Wetter und Topografie, Stadt und Land oder Technik der Verkehrswege dargestellt werden.
Pennebaker und sein Assistent Derek Washburn reisen im Sommer 1957 durch das Land und schicken das Material nach New York. Sie drehen Material für insgesamt dreiundzwanzig zweieinhalbminütige Farbschleifen. Clarke schneidet das Material von zwölf Kurzfilmen und dreht und schneidet drei weitere Loops alleine. Pennebaker verantwortet einen Film allein. Clarke macht den Schnitt für die weiteren beteiligten Filmemacher Richard Leacock und Francis Thompson bei weiteren vier Loops. Thompson, Wheather Galentine und Leacock machen jeweils einen Film alleine.
In „Nite Lights“ zeigen Clarke und Pennebaker die schillernde Farbigkeit des Neolichts in vibrierenden modernen amerikanischen Großstadt.
Ein weiteres Beispiel ist der Film „Bridges“, den Shirley Clarke allein gedreht und geschnitten hat.
„Supermarkt“ ist ein weiterer Kurzfilm, der die in den USA bereits damals normalen Einkauf im Supermarkt zeigt,. In Europa gab es diese Läden damals erst sehr selten. „Nimm heute genug mit nach Hause“ – die Verheißung der Konsumgesellschaft, in der es für alle alles im Überfluss gibt.
Der Film „Shopping Center“ zeigt die modernste Anlage der Cash und Carry Einkaufszentren im Vorfeld amerikanischer Großstädte. Heute ein Auslaufmodell wegen des Online Einkaufs und der Direktzustellung, damals der letzte Schrei. Filmisch gesehen eine eher konventionelle Auflösung. Hier hat nicht Pennebaker die Regie gehabt. Inhaltlich interessant der kurze Schnitt auf den Sputnik Kiddy Ride Fahrautomaten für Kinder. Der Sputnik war erst im Oktober 1957 gestartet worden und wurde das Symbol des aufkommenden Weltraumzeitalters. Die Schausteller und Fahrautomatengeschäfte in den USA reagierten offenbar umgehend auf das sensationelle Ereignis, denn der Film wurde bereits Ende 1957 oder Anfang 1958 gedreht.
Zur modernen amerikanischen Architektur zeigen die Filmemacher den Film „Architecture“.
Die EXPO von 1958
Der folgende Film zeigt den amerikanischen Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung, auf der die Filme gezeigt wurden. Man hatte im Rundgang des Pavillons für das Publikum 25 Mattscheiben aufgebaut, die mit 16mm Rückprojektoren bespielt wurden. Die 2 1/2 Minuten langen Filme liefen in einer Endlosschleife. Die Brüsseler Weltausstellung ist für mich der Meilenstein in der Popularisierung des Fortschrittsoptimismus der 1960er Jahre. Schon das zentrale Symbol, das Atomium, steht für das Versprechen der im Überfluss verfügbaren Atomenergie, die nach den Vorstellungen der Menschen damals alle Lebensbereiche mit konkurrenzlos günstiger Energie umwälzen sollte. Über 41 Millionen Besucher sahen die Brüsseler Schau. In den Jahren danach wird der Fortschrittsoptimismus mit der Eroberung des Weltalls weiter befeuert und findet in der Mondlandung 1969 seinen Höhe- und Endpunkt.
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